Interreligiöser Dialog  ·  Schweiz
Ann-Katrin Gässlein

Religionsverbindende Feiern in der Schweiz – Teil 1

Gemeinsam feiern, obwohl man nicht zur selben Religion gehört, kann Menschen verbinden. Erfahrungen aus der Praxis in der Schweiz zeigen jedoch, dass solche Feiern mit einigen Schwierigkeiten verbunden sind. Unterschiedliche Machtverhältnisse und Ressourcen, wenig Sensibilität für das Erleben des Gegenübers und nur wenige praxisorientierte Anleitungen machen diese Arbeit herausfordernd – und dennoch sehr bereichernd. Ann-Katrin Gässlein, promovierte Theologin, gibt Einblicke in die Ergebnisse ihrer Studie zu religionsverbindenden Feiern in der Schweiz.

In der Schweiz sind sie vielerorts schon lange bekannt: «Interreligiöse», «multireligiöse» oder – neutraler gefasst – «religionsverbindende» Feiern gibt es seit rund 30 Jahren. Vom «Programm» der jeweiligen Religionstraditionen her betrachtet, sind solche Feiern sicher Ausnahmen. Aber in einer Gesellschaft wie der schweizerischen, in der sich immer weniger Menschen einer institutionalisierten Religion zugehörig fühlen und die zunehmende Pluralisierung nach einer gleichberechtigten Behandlung verschiedener Religionen verlangt, erregen sie bisweilen Aufmerksamkeit – denken wir beispielsweise an die Feier anlässlich der Einweihung der Gotthard-Röhre im Jahr 2016.

Religionsverbindende Feiern nehmen sehr unterschiedliche Gestalt an: als spontane Feiern einer privaten Arbeitsgruppe, als Abschlussfeiern eines Schuljahres, als öffentliche Liturgien anlässlich von Katastrophen und Trauerfällen, als feierliche Einweihungen und Eröffnungen von Gebäuden, als private Segnungen von (Ehe-)paaren oder als thematisch fokussierte Veranstaltungen. 

Einblick in die interreligiöse Kultur der Schweiz

Von kirchlicher Seite sind im deutschsprachigen Raum seit den 1990er Jahren zahlreiche Positionspapiere, Handreichungen und Arbeitshilfen erschienen. Was aber weitgehend fehlte, waren empirische Untersuchungen der Praxis vor Ort; insbesondere gab es keine Untersuchungen aus der Schweiz. Die Religionsgeschichte, die demografische Situation und das kulturelle Gedächtnis unterscheiden sich aber von Land zu Land und haben einen Einfluss auf die Art und Weise des Feierns.

Als ich 2019 meine Dissertation im Fach «Liturgiewissenschaft» begann, wollte ich erforschen, wie Christen und Christinnen in der Schweiz religionsverbindende Feiern initiieren und gestalten. Die empirische Methode – mit teilnehmender Beobachtung und Interviews – bot sich dafür an: Als Forschungsfeld wählte ich die Deutschschweiz und angrenzende zweisprachige Gebiete. Insgesamt besuchte ich 20 Feiern, wertete Bild- und Videoaufzeichnungen aus und führte 58 Interviews, davon ziemlich genau die Hälfte mit Menschen nicht-christlicher Religion. 

Die erste Feier war im Hochsommer 2019, die letzte eine Gedenkfeier anlässlich der Corona-Pandemie, als in der ganzen Schweiz die Feiertage Ostern, Pessach und Ramadan aufgrund des Lockdowns zu Hause stattfanden. In diesem Zeitraum trafen sich Menschen anlässlich des Klimastreiks, zum Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag, in der Woche der Religionen Anfang November, im Advent, nach Neujahr, in der Fastenzeit und zum Internationalen Frauentag. Alle Feiern waren öffentlich ausgeschrieben und angekündigt, es nahmen je nach Anlass zwischen fünf und 500 Personen teil und überall war ein explizit religiöser und religionsverbindender Charakter gegeben. Die Auswertung dieser Ergebnisse ist eine Studie, die mir einen tiefen Einblick in die interreligiöse Kultur der Schweiz geschenkt hat.

Dürfen wir gemeinsam feiern?

Das gemeinsame Feiern wird theologisch reflektiert: Die christliche Theologie macht dies, wenn sie über das Verhältnis des Christentums zu den anderen Religionen nachdenkt. Es scheint unaufrichtig, mit Andersgläubigen ernsthaft zu feiern, wenn man ihnen jegliche Heilszusage absprechen würde. Daher gibt es auch keine innerchristliche Einigkeit in der Frage, ob Christen und Christinnen mit Menschen anderen Glaubens zusammen feiern können oder sollen. Freikirchliche wie auch offizielle orthodoxe Positionen lehnen dies in der Regel ab, auch wenn eine Fürbitte für einen Menschen anderen Glaubens immer möglich ist. 

Die Bibel liefert ansonsten keine wirklich guten «Rechtfertigungen» für religionsverbindendes Feiern. Vor allem das Erste Testament ist hinsichtlich ritueller Handlungen von Warnungen vor Synkretismus, fremdem Götzendienst und Glaubensabfall geprägt. Im Zweiten Testament sieht sich Jesus aus Sicht der Autoren der neuen Bücher jüdischen Gruppen gegenüber, die auf eine strikte Abgrenzung zu anderen Menschen – Römern, Samaritanern und andere – setzen. Da er diese Grenzen durchbricht, lebt er in gewisser Weise «interreligiös».

Die Kontakte werden aber in der Bibel so gedeutet, dass die Erkenntnis der Gottessohnschaft Jesu am Ende steht, denken wir beispielsweise an die Sterndeuter aus dem Orient, die an der Krippe Jesus als König der Juden und Messias erkennen und anbeten. Für heutige religionsverbindende Feiern trägt diese Deutung nicht. Christen und Christinnen der frühen Kirche haben zwar – insofern sie einen jüdischen Hintergrund hatten – weiterhin die Synagoge besucht und wohl auch die jüdischen Feiertage begangen, sich aber dezidiert gemeinsamen religiösen Anlässen mit der «heidnischen» Umgebung verwehrt. 

Die Bibel liefert ansonsten keine wirklich guten «Rechtfertigungen» für religionsverbindendes Feiern.

Natürlich gibt es innerhalb der christlichen Theologie verschiedene Zugänge, aber insbesondere der Wahrheitsanspruch, der sich in dem Jesuswort «Niemand kommt zum Vater denn durch mich» (Joh 14) zeigt, muss im Blick auf interreligiöse Begegnungen interpretiert werden. Wird der biblische Anspruch ganz und gar auf einen «Geist Christi» bezogen, der sich im Handeln anderer Menschen, in ihrer aufrichtigen Gottsuche, ihrer Zugewandtheit zu Armen und Kranken und ihrem Bemühen nach Frieden zeigt, ist ein gemeinsames Feiern möglich.

Im Umkehrschluss heisst dies, dass es aus christlicher Perspektive erst einmal keine demografisch zwingenden Gründe gibt, religionsverbindend zu feiern. Die übliche Begründung für solche Feiern – wie die Pluralität der Gesellschaft – führen aus christlicher Sicht nicht unbedingt zur Schlussfolgerung, dass religionsverbindende Feiern stattfinden müssen. In anderen multireligiösen Gesellschaften, zum Beispiel in Bosnien, hat sich über die Jahrhunderte keine Tradition des religionsverbindenden Feierns herausgebildet. Es kann gelingen, wenn man «Feiern» nicht mehr allein auf die Konstituierung der eigenen Religionsgemeinschaft bezieht, sondern als Auftrag, im Miteinander des Lebens auch am «religiösen Kern» des Anderen Anteil zu haben,

Mit welcher Motivation wird gemeinsam gefeiert?

Heute gibt es bei Christen und Christinnen sehr unterschiedliche Gründe, weshalb sie religionsverbindende Feiern gestalten. Es lohnt sich, kurz innezuhalten und sich zu fragen: Will man die zunehmend leeren Kirchenbänke wenigstens punktuell füllen, der säkularisierten Welt die Bedeutung von Religion sichtbar vor Augen führen oder anschlussfähige Feierformate für eine «breite Öffentlichkeit» entwickeln? Welche Präferenzen leitend sind, zeigt sich zum Beispiel darin, ob automatisch mit der demografisch grössten – meist einer muslimischen Gruppe – zusammengefeiert wird, oder ob einer kleinen Splittergruppe der Vorzug gegeben wird, die vielleicht selbst religiös verfolgt wird. Hier offenbaren sich unterschiedliche (christliche) Auffassungen hinsichtlich der eigenen Rolle als «staatstragend» oder als «solidarisch mit den Bedrängten». Ebenso ist nach den Motivationen der anderen Beteiligten zu fragen.

Christinnen und Christen neigen tendenziell dazu, sich als Religionsmanager und -managerinnen in einer säkularen Welt zu verstehen. Diese Rolle wurde und wird ihnen zum Teil auch von der Gesellschaft angetragen. In früheren Jahrzehnten waren Feiern oft schon fertig entwickelt, bevor andere Religionsgemeinschaften zur Mitwirkung angefragt wurden. Bis heute beinhalten kirchliche Handreichungen viele Beispiele, die je nach Anlass übernommen oder nur leicht adaptiert werden können. Der Anspruch, gemeinsam etwas zu entwickeln, hat sich erst langsam durchgesetzt und ist nach wie vor mit viel Aufwand verbunden. Fairerweise ist zu sagen, dass es kaum oder sehr viel weniger religionsverbindende Feiern geben würde, wenn sich nicht Christen und Christinnen so stark engagieren würden.

Keine Regulierungen in der Schweiz

In der Schweiz gibt es nur wenige kirchliche Handreichungen zu religionsverbindenden Feiern. Dies liegt zunächst daran, dass der (konfessionelle) Religionsunterricht aus der schulischen Verantwortung herausgenommen ist. Über die Hälfte aller Handreichungen aus Deutschland und Österreich beziehen sich genau auf den schulischen Rahmen, den es in der Schweiz so nicht gibt. 

Es existiert bislang auch keine einzige Handreichung in der Verantwortung der römisch-katholischen Kirche, die als Religionsgemeinschaft in der Schweiz die meisten Mitglieder zählt. Warum diese Zurückhaltung? Möglicherweise liegt es an der starken Präferenz für den christlich-jüdischen Dialog, der die Auseinandersetzung mit (anderen) Religionsgemeinschaften in den Hintergrund treten lässt. Auf evangelisch-reformierter Seite hat dieselbe Priorisierung des christlich-jüdischen Dialogs hingegen Reflexionen und einzelne praktische Handreichungen zu religionsverbindenden Feiern erlaubt, beispielsweise für christlich-muslimische Hochzeiten oder Trauerfälle.

Interreligiöse Ausbildung in der Theologie

Mit klaren Do’s und Dont‘s halten sich die christlichen (Gross-)Kirchen der Schweiz aber zurück – auch im Unterschied zu Deutschland und Österreich. Trotz oder vielleicht gerade aufgrund dieser Zurückhaltung blüht das Feld religionsverbindender Feiern, und zwar nicht nur in urbanen Zentren, wo dies die demografische Zusammensetzung nahelegen würde. Feiern gibt es auch in ländlichen Gebieten wie im Thurgau, im Wallis oder in Nidwalden. Interreligiöse Arbeit ist in der Schweiz denn auch im Theologiestudium und in kirchlichen Anstellungsprofilen verankert. In der Ausbildung wurde das Thema lange mit einer gewissen Einseitigkeit gelehrt, was das religionsdemografische Profil vor Ort nicht berücksichtigt.

Religionsverbindende Feier in Bern 2013

So suchen theologisch geschulte kirchliche Verantwortliche in erster Linie jüdische Personen, sind dabei aber je nach Ort und Region mit einem wie leergefegten Partnermarkt konfrontiert. Dann fokussieren sie auf Vertreter und Vertreterinnen der so genannten «Weltreligionen». Da aber der Anteil von Buddhisten und Buddhistinnen und Hindus – und weiter auch der Bahá’í, Sikhs und weiterer religiöser Minderheiten – an der Schweizer Bevölkerung jeweils weit unter einem Prozent liegt, kommen verstärkt Konvertiten und Konvertitinnen in den Blick. Hier greift das Narrativ des «gegenseitigen Kennenlernens», das den interreligiösen Dialog prägt, nicht, und auch der Auftrag, «interreligiöse Arbeit» im Kontext von «Arbeit mit Flüchtlingen und Migranten» zu verorten, greift hier nicht.

Auf eine theologische Auseinandersetzung mit Personen, die das Christentum kennen, beziehungsweise zu kennen meinen, sind viele Akteure wenig vorbereitet. Christen und Christinnen sehen sich immer wieder «Ex-Christen und -Christinnen» gegenüber, die sich in einem langen Prozess von einem Christentum, wie sie es erlebten – beispielsweise vermittelt in einem strengen Katechismus oder mit dem Bild eines alles sehenden und strafenden Gottes –, abgewendet haben. Das entspricht jedoch nicht der Erfahrungswelt heutiger Christen und Christinnen im interreligiösen Dialog und kann dazu führen, dass diese betroffen schweigen und sich  unvermittelt in einer Rechtfertigungsrolle sehen, während sie sich eigentlich darauf vorbereitet hatten, mit Juden und Jüdinnen über Gottessohnschaft zu sprechen oder mit Muslimen und Musliminnen über das Fasten zu diskutieren.

Machtverhältnisse in der Zusammenarbeit 

Hervorzuheben ist auch das unterschiedliche Machtverhältnis zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften. Einige Kirchen können Personal für den interreligiösen Dialog einsetzen. Andere Religionsgemeinschaften verfügen nicht über dieselben finanziellen Ressourcen. Häufig treffen ausgebildete Theologen und Theologinnen, die dieser Arbeit professionell nachgehen, auf «irgendwelche» Menschen, die von ihren Religionsgemeinschaften aus für interreligiöse Anlässe delegiert werden und Zeit aufbringen können. 

Dieses Machtverhältnis in der Zusammenarbeit bedarf einer Reflexion. Insbesondere die reformierte Auffassung, alle theologischen Differenzen kognitiv zu erfassen und verbal auszuhandeln, bevor es zu irgendeiner gemeinsamen, gar rituellen Handlung kommen dürfe, ist schwierig. Gerade die Vorbereitung für eine religionsverbindende Feier kann hingegen die Grundlage für das Kennenlernen schaffen und Ausgangspunkt für echte Gespräche bilden.

Feiern «für alle»?

Religionsverbindende Feiern sind von christlicher Seite oft dem Anspruch ausgesetzt, Feiern «für alle» zu sein, wobei sie vor allem an die Mitglieder einer säkularisierten beziehungsweise sich religiös als «offen» verstehenden Gesellschaft denken. In zahlreichen Fällen dienen christliche Liturgien wie Andachten oder Wortgottesdienste als Folie; aber es entstehen auch Modelle, die dialogische Elemente akzentuieren oder explizit einen spirituellen Erfahrungsraum schaffen. Damit unterlaufen die Verantwortlichen bewusst oder unbewusst die in kirchlichen Handreichungen angestrebte Ordnung, die eine «Liturgische Gastfreundschaft» oder ein so genanntes «Multireligiöses Modell» vorsieht. 

Zur Religionsfreiheit gehört eben auch, dass die Mitfeiernden selbst den Grad der Aktivität bestimmen.

Letzteres fordert eine strikte Trennung aller Beiträge und lädt die Anwesenden nur zu respektvollem Zuhören ein. Diese Forderung richtet sich in erster Linie an engagierte Christen und Christinnen, die – vor allem in früheren Jahrzehnten – am liebsten oft alles gemeinsam singen oder beten wollten. Die Handreichungen übernehmen hier ein korrigierendes Moment, betonen das «multireligiöse Modell» als Rezept gegen die Gefahr des Synkretismus und machen sich für die Religionsfreiheit stark, auch im Dienst der anderen Religionen, die sich von Einladungen zum «Mitbeten» oder «Gemeinsamen Machen» vielleicht überrumpelt fühlen, aber nicht den Mut aufbringen, dies abzulehnen.

Und es gibt auch die kritischen Christen und Christinnen, die sich unwohl fühlen, wenn sie beispielsweise zu einer spirituellen Reise zum Kern des Lichts oder minutenlangem Hare Krishna-Chanten eingeladen werden. Gleichwohl bleibt der Wunsch nach einem «gemeinsamen» Element und dem Ziel, niemanden auszuschliessen, präsent. Zur Religionsfreiheit gehört eben auch, dass die Mitfeiernden selbst den Grad der Aktivität bestimmen, zumal nur abgegrenzte Beiträge zunehmend als «beziehungsloses Nebeneinander» empfunden werden.

Die eigene Liturgie dient häufig als Vorlage

Dass die eigene Liturgie die Vorlage bildet, zeigt sich auch, wenn die Feier in nicht-christlicher Verantwortung geplant wird: In meiner Untersuchung habe ich erlebt, dass Bahá’í eher eine Interreligiöse Lesung mit eingestreuten Gebeten andenken und Muslime und Musliminnen einen Anlass mit zwei Ansprachen, wie es dem Konzept des Freitagsgebets entspricht. Aus dem Sufismus ist ausserdem das Modell des «Universalen Gottesdienstes» bekannt, das von vornherein auf eine Integration von Texten und Ritualen unterschiedlicher Religionen abzielt.

Als «Feiern für alle» eignen sich die heutigen Anlagen aus meiner Sicht aber nicht. Sie beinhalten zu viele fremdartige Elemente und können das Bedürfnis nach Wiedererkennbarkeit und Beheimatung kaum erfüllen. Aufgrund ihrer hohen Komplexität und Einmaligkeit dürften sie auch nicht als «Rituale» im klassischen Sinn gelten. 

Als «Feiern für alle» eignen sich die heutigen Anlagen aus meiner Sicht aber nicht.

Wachsende Erfahrung bringt die Akteure dazu, kleine «Kostproben» aus ihrer Frömmigkeitspraxis einzubringen: ein moderiertes Chanten des Hare Krishna-Mantras, ein wenig Derwischtanz, Gesänge aus Taizé, kombiniert mit der Lyrik populärer Dichter und Dichterinnen, ein wenig traditionelles Liedgut aus der Schweiz und Kerzenrituale. Das spielerische Aufgreifen von Elementen aus traditionellen Liturgien, ihre Variation und Verfremdung mögen auf Kosten der theologischen Tiefe gehen. Dennoch können sie, sofern die Symbolik für alle anschlussfähig ist, verbindende Elemente darstellen. Religionsverbindende Feiern laufen jedoch stets Gefahr, überfrachtet zu werden und vor allem die Mitfeiernden, die ja in die Vorbereitung nicht einbezogen waren, zu überfordern. 

Musik ist wichtig – Gesang muss geklärt werden

Ein immer wieder diskutiertes Thema ist die Musik und das gemeinsame Singen: Von der Vorstellung, dass es sich beim gemeinsamen Gesang um etwas Universelles handelt, müssen wir wohl Abstand nehmen. Diese Annahme lässt sich nicht einmal für das Christentum erhärten; die orthodoxe Tradition kennt den kunstvollen Chor-, aber kaum Gemeindegesang. Dann kommt schnell der Einwand, Singen sei tabu, weil es nicht alle kennen. Trotzdem liegt das gemeinsame Singen vielen am Herzen. Ein Problem kann aber entstehen, wenn die christliche Gruppe vielleicht «Bless the Lord» jubiliert, während die anderen schweigen, obwohl man eigentlich niemanden ausschliessen oder dominieren möchte. 

Handreichungen zu religionsverbindenden Feiern raten vom gemeinsamen Singen prinzipiell ab und empfehlen Instrumentalmusik. Das ist aber auch einschränkend gedacht, weil es religiöse Musik auf ein «Beiwerk» reduziert. Aus Perspektive der katholischen Theologie zum Beispiel ist das Singen auch Ausdruck der «participatio actuosa», der «tätigen Teilnahme» der Gläubigen am Gottesdienst. Wenn man religionsverbindende Feiern theologisch ernst nimmt, sollte man das Singen nicht einfach beiseite wischen, sondern sich mit den Partnern und Partnerinnen austauschen, allenfalls nach geeignetem Liedgut und Begleitung suchen und sich überlegen, wie man die Einladung zum Mitsingen und Unterstützung für die Mitfeiernden gestalten will.

Der Fokus auf ein Thema hilft

Ein klassischer und empfohlener Anlass für religionsverbindende Feiern ist der Einsatz für Frieden: Doch die politischen und gesellschaftlichen Weltbilder der unterschiedlichen Akteure im interreligiösen Dialog liegen oft weniger nah beisammen, als dies zu Beginn angenommen wird. In der Praxis zeigt sich Uneinigkeit, wie der richtige Weg zum Frieden aussieht: ob er zum Beispiel gesellschaftskritisches Engagement mit Aktionen gegen Antisemitismus und Islamphobie oder die Konzentration auf den inneren Weg des Ausgleichs und der Harmonie beinhaltet. 

Besonders zufrieden zeigten sich Akteure, die sich in der Vorbereitung auf ein Thema fokussiert hatten, zum Beispiel auf «Verantwortung», «Umkehr» oder «Freiheit». Sie befragten dazu ihre religiösen Quellen und brachten ihre Interpretationen für das Zusammenleben in der Schweiz in der Feier ein.

Die Erforschung religionsverbindender Feiern in der Schweiz brachte mir zahlreiche neue und überraschende Einsichten. Ich möchte die Menschen, die sich im interreligiösen Dialog engagieren, ermutigen, auch im Bereich der Feiern voranzuschreiten und neue Formen auszuprobieren. Die Zusammenstellung «Gebete und Lieder für religionsverbindende Feiern» mit Beispielen aus fast 30 Sprachen mit Übersetzungen kann hierfür helfen.


Beispiele für Handreichungen zu religionsverbindenden Feiern

Reformierte Kirchen Bern-Jura-Solothurn, Fachstelle Migration: «Er hat Liebe und Barmherzigkeit zwischen euch gesetzt.» Handreichung für die Trauung von christlich-muslimischen Paaren, Bern 2007. 

Reformierte Kirchen Bern-Jura-Solothurn, Bereich OeME-Migration, Katholische Kirche Region Bern, Fachstelle «Kirche im Dialog», Christkatholische Landeskirche des Kantons Bern, Arbeitskreis Religion Migration»: Christlich-muslimische Trauerfälle. Eine Handreichung für die christliche Seelsorge, Bern 2017.

Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund SEK: Wahrheit in Offenheit. Der christliche Glaube und die Religionen, Bern 2007.

Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz: Leitlinien für das Gebet bei Treffen von Christen, Juden und Muslimen. Eine Handreichung der deutschen Bischöfe (Arbeitshilfe Nr. 170). Bonn 2008.

Zentrum Ökumene der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (Hg.): «Lobet und preiset ihr Völker!» Religiöse Feiern mit Menschen muslimischen Glaubens. Frankfurt a.M.: 2011.

Weiterführende Literatur

Riedl, Gerda: Modell Assisi: christliches Gebet und interreligiöser Dialog in heilsgeschichtlichem Kontext, Berlin: De Gruyter 1998 

Müller, Brigitte: Religionsumspannende Gebete, Berlin: Lit 2008.

Gässlein, Ann-Katrin: Religionsverbindende Feiern. Theologisch-liturgische Linien in Handreichungen und Positionspapieren der Kirchen im deutschen Sprachraum. Regensburg: Pustet 2022.

Gässlein Ann-Katrin: Religionsverbindende Feiern in der Schweiz. Religionssoziologische Analyse und liturgiewissenschaftliche Kommentierung. Freiburg i.Br.: Herder 2024.


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Autor

  • Ann-Katrin Gässlein

    Religions- und Islamwissenschaftlerin und katholische Theologin ||| Ann-Katrin Gässlein ist Religions- und Islamwissenschaftlerin und katholische Theologin. Sie forscht an der Uni Luzern über religionsverbindende Feiern und Rituale in der Schweiz und arbeitet in St. Gallen beim Team der Cityseelsorge.

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