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Katharina Heyden

Vom Umgang mit Religion in Konflikten 

Religion kann sowohl Konflikte verschärfen als auch zur Konfliktlösung beitragen. Doch wie lässt sich diese Ambivalenz erklären? Katharina Heyden, Professorin für interreligiöse Begegnungen an der Universität Bern, untersucht die Rolle von Religion in gesellschaftlichen Konflikten. Sie zeigt Ansätze, wie die friedensfördernden Potenziale von Religionen aktiviert werden können.

Religion ist selten die einzige Ursache von gesellschaftlichen oder politischen Konflikten, aber sie ist häufig eine treibende Kraft. Sie hat ein grosses Potential, Konflikte zu verschärfen und für Kriegstreiben benutzt zu werden. Aber Religion kann auch zur konstruktiven Gestaltung gesellschaftlicher Konflikte beitragen und tut dies auch. Wie lässt sich diese Ambivalenz erklären, da doch die Sehnsucht und das Streben aller Religionen auf den inneren und äusseren Frieden der Menschen ausgerichtet sind? Und wie können die friedensfördernden Potentiale von Religionen aktiviert und die konfliktverschärfenden Potentiale in Zaum gehalten werden? 

Konfliktdynamiken auf verschiedenen Ebenen erkennen

Um zu erkennen, welche Rolle Religion in der komplexen Dynamik von Konflikten spielt, ist es hilfreich, zwischen verschiedenen Ebenen eines Konflikts und darin relevanten Dimensionen von Religion zu unterscheiden.

Eine erste Ebene ist die Konfliktursache. Die meisten Konflikte entstehen aus einem tatsächlichen oder empfundenen Mangel. Dies kann Mangel an materiellen Gütern wie Lebensraum, Wasser, Rohstoffen, Energie sein, oder an immateriellen Gütern wie Zugang zu Bildung oder Freiheit, auch Religionsfreiheit.

Die zweite Ebene ist die Ausbildung oder Verfestigung von Gruppenidentitäten in Konflikten. Der Streit um mangelhafte Güter wird zwischen bereits existierenden oder sich während des Konflikts bildenden Gruppen ausgetragen. Für die Identität von Gruppen spielt – neben anderen Aspekten wie etwa Herkunft, Geschlecht und Sozialstatus – religiöse Zugehörigkeit häufig eine grosse Rolle.

Eine dritte Konfliktebene ist der Diskurs. Religiöse Rede versteht es, lebensweltliche Ereignisse und Erfahrungen mit Bezug auf eine höhere Macht zu deuten. Zudem kann sie Verlust und Hoffnung mit alten Geschichten und heiligen Verheissungen verknüpfen. Daher ist sie auf dieser diskursiven Ebene häufig besonders wirkmächtig. 

Religiöse Konflikte und Bearbeitungsstrategien. Quelle: Katharina Heyden

Nahostkonflikt – nicht primär religiös

Religion kann also auf verschiedenen Ebenen eines Konflikts ins Spiel kommen. Deshalb ist es wichtig, sich für jeden konkreten Konflikt zu fragen, an welcher Stelle genau Religion auf welche Weise relevant wird. Im Nahostkonflikt etwa, der vielen als Paradebeispiel für einen religiösen Konflikt gilt, ist die Ursache nicht primär religiös, sondern ein Mangel an Lebensraum und Ressourcen. 

Dieser wurde und wird aber zwischen Gruppen ausgetragen, die seit der Britischen Mandatszeit in der Region religiös identifiziert wurden, als Juden und Muslime. Dies führte zu einer vereinfachenden Gleichsetzung zwischen ethnischen, kulturellen und religiösen Identitätsmerkmalen. In der Folge erschien nicht nur der gesamte Konflikt als religiös motiviert. Bis heute hat dies auch den Effekt, dass bestimmte Gruppen, etwa christliche Palästinenser oder israelische Bahá’í, aus dem Blick geraten. 

Man kann Konflikte aber auch als treibende Kraft gesellschaftlicher Entwicklung und Veränderung verstehen.

Hinzu kommen geschichtlich gewachsene religiöse Narrative von der Heiligkeit des Landes. Auch säkular lebende Juden begründen den Anspruch auf das Land mit Verweis auf den Tanach. Palästinensischer Widerstand und Terror gegen Israel wiederum kann mit dem islamischen Konzept des djihad legitimiert und angeheizt werden. Und die Geschichte der christlichen Kreuzfahrerherrschaften im Mittelalter wird in der touristischen Aufbereitung häufig als eine historische Verbindung des Staates Israel mit der westlichen Welt präsentiert.

Die Unterscheidung von Konfliktebenen und Dimensionen des Religiösen bietet selbst noch keine Lösungsansätze für Konflikte. Sie kann aber helfen, die Potentiale und die Wirkung von Religion in konkreten Konflikten besser zu verstehen. Dies wiederum kann religiösen Akteuren helfen, bewusst mit diesen Potentialen umzugehen und Konflikte friedensfördernd zu gestalten.

Konkurrenz, Konflikt, Krieg

Im heutigen Sprachgebrauch hat das Wort «Konflikt» meist einen negativen Ton und wird schnell mit Gewalt und Krieg assoziiert. Man kann Konflikte aber auch allgemeiner als treibende Kraft gesellschaftlicher Entwicklung und Veränderung verstehen wie der Soziologe Georg Simmel (1858-1918). Dann erscheinen Konflikte und Konfliktfähigkeit sogar als notwendig für gesunde Gesellschaften. Denn ein friedliches Zusammenleben von verschiedenen Menschen und Interessengruppen ist ohne Konkurrenz und Auseinandersetzung kaum denkbar. Die Herausforderung besteht darin, Konflikte gewaltfrei und konstruktiv zu gestalten, so dass sie nicht in Gewalt und Krieg umschlagen. 

Judentum, Christentum und Islam teilen eine konfliktreiche Geschichte, die stark von der Konkurrenz widersprüchlicher Wahrheitsansprüche geprägt ist.

Judentum, Christentum und Islam teilen eine konfliktreiche Geschichte, die stark von der Konkurrenz widersprüchlicher Wahrheitsansprüche geprägt ist. Ohne diese Konkurrenz ist ihre Koexistenz aus historischen Gründen kaum vorstellbar. Das bedeutet aber keineswegs, dass Muslime, Christen und Juden heute nicht friedlich zusammenleben könnten. Die Frage ist nur, ob und wie sie das Ausleben ihrer Religion(en) so gestalten können, dass sie zur konstruktiven und friedensfördernden Gestaltung gesellschaftlicher Konflikte beitragen.

Foto von Egor Myznik auf Unsplash

Ein Ansatzpunkt müsste die bereits erwähnte sorgfältige Unterscheidung zwischen religiösen und nicht-religiösen Aspekten in sozialen Konflikten sein. Raumknappheit, Hunger, verwehrter Zugang zu Bildung oder Wasser können nicht auf religiöse Weise gelöst oder ersetzt werden. Faktisch werden sie aber oft mit religiöser Rhetorik verknüpft, nicht selten von religiösen Fundamentalisten. Wie aber können Religionsgemeinschaften in ihren Ritualen und ihrer Rhetorik dazu beitragen, dass eine gesunde Konkurrenz um Glaubenswahrheiten und Geschichtsansprüche nicht in gewalttätige Konflikte ausartet oder sie verschärft?

Sprachgewalt und Symbolmacht

Die grösste Einflussmöglichkeit der Religionen auf Konflikte besteht wohl in ihrer Sprachgewalt und Symbolmacht. Wenn heute gewalttätige Konflikte – Terrorakte oder Kriege – mit religiösen Dimensionen aufbrechen, sind in den westlichen Gesellschaften häufig zwei Reaktionen zu beobachten. Auf der einen Seite sind «säkulare» Positionen schnell dabei, die Religionen pauschal für schuldig zu erklären. Auf der anderen Seite betonen Vertrer:innen der involvierten Religionen mit grossem Nachdruck, dass ihre Religion eigentlich friedfertig und gegen ihr eigentliches Wesen missbraucht worden sei. Beide Haltungen sind ebenso verständlich wie gefährlich und in ihrer Pauschalität ebenso richtig wie falsch. 

Natürlich gibt es kein Allgemeinrezept, wie religiöse Gemeinschaften und Wortführer:innen sich verhalten müssten, um Frieden zu fördern. Und natürlich kann die Kraft von Religion für Krieg und für Frieden eingesetzt werden. Drei Impulse zum Miteinander von Judentum, Christentum und Islam können den Friedliebenden helfen, in historischer Verantwortung die Friedenspotentiale ihrer Religionen zu erkennen und zu fördern.

Religiöse Friedenspotentiale aktivieren

Erstens wäre es wichtig, dass alle drei Religionen sich der Ambivalenz ihrer eigenen Tradition stellen. Sie alle haben sowohl friedensfördernde als auch gewaltverherrlichende Potentiale in ihren heiligen Schriften und ihren theologischen Traditionen. Es hilft nicht, wenn jede Gemeinschaft sich als die eigentlich friedliche darstellt. Denn das ist nicht wahr und kann sogar dazu führen, dass die Fronten verhärtet werden, weil man sich gegenseitig der Lüge bezichtigt. Viel mehr wäre gewonnen, wenn Theolog:innen aller Religionen Wege aufzeigen würden, wie mit den gewaltverherrlichenden Passagen in Tanach, Zweitem Testament und Quran friedensförderlich umgegangen werden kann. 

Schliesslich gibt es bei den Philosoph:innen und Theolog:innen aller drei Religionen die tiefe und grundlegende Einsicht, dass Gott grösser und geheimnisvoller ist als alles, was Menschen erfassen können.

Zweitens täten Juden, Christen und Muslime gut daran, sich nicht nur für die Entwicklung ihrer jeweils eigenen Tradition zu interessieren, sondern anzuerkennen, wie verflochten und aufeinander angewiesen ihre Geschichten sind. Historisch betrachtet können diese drei Religionen sich selbst nicht ohne die anderen verstehen. Sie haben ihre eigenen Lehrmeinungen und Lebensregeln schon immer in Auseinandersetzung mit den jeweils anderen ausgeprägt und permanent angepasst. Judentum, Islam und Christentum verdanken einander ebenso viel wie sie einander schulden. Wer diese historische Wahrheit anerkennt, wird auch den Gedanken fassen können, dass es im Interesse jeder einzelnen Religion sein muss, dass auch die anderen fortbestehen und florieren können. 

Schliesslich gibt es bei den Philosoph:innen und Theolog:innen aller drei Religionen die tiefe und grundlegende Einsicht, dass Gott grösser und geheimnisvoller ist als alles, was Menschen erfassen können. Es ist erstaunlich, ja verstörend, dass diese von allen geteilte Einsicht so selten für die Sache des Friedens stark gemacht wurde und wird. Wer sie ernst nimmt, wird zu dem Schluss kommen, dass es ein Selbstwiderspruch wäre, auf der eigenen Wahrheit als der einzig möglichen zu beharren. 

Seit jeher helfen religiöse Rituale und religiöse Reden den Menschen, mit Erfahrungen von Verlust und Verzweiflung umzugehen und Ausdrucksformen für ihre Sehnsüchte nach einem guten Leben zu finden. Wenn es gelingen würde, die Erkenntnis in die eigenen ambivalenten Potentiale, die verflochtenen Geschichten und die Unfassbarkeit des Göttlichen auch rituell zu leben, wären die Religionen nicht mehr gegeneinander unterwegs zur Verteidigung und Verkündigung ihrer widersprüchlichen Wahrheitsansprüche, sondern nebeneinander im Formulieren und Feiern menschlicher Sehnsüchte. 


Autor

  • Katharina Heyden

    Professorin für Ältere Geschichte des Christentums und der Interreligiösen Begegnungen an der Universität Bern ||| Katharina Heyden, geb. 1977 in Berlin (DDR), ist Professorin für Ältere Geschichte des Christentums und der Interreligiösen Begegnungen an der Universität Bern. Die Theologin hat von 2018 bis 2022 die Interfakultäre Forschungskooperation «Religious Conflicts and Coping Strategies» geleitet. Derzeit forscht sie am Institute für Advanced Study in Princeton (USA) zur historischen Co-produktion von Judentum, Christentum und Islam.

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