Nadire Mustafi

Mut und Vertrauen: Die Frauen in Ibrahims Geschichte als Brücke im interreligiösen Dialog

Die Geschichten von Sara und Hāǧar, den Frauen Ibrāhīms, bieten spannende Einblicke in Themen wie soziale Gerechtigkeit und Gottvertrauen. Ihre Erlebnisse und Handlungen eröffnen neue Perspektiven auf die islamische Tradition und können den interreligiösen Dialog bereichern.

Die Geschichte von Ibrāhīm/Abraham (Friede sei mit ihm) nimmt nicht nur in den jeweiligen monotheistischen Religionen eine wichtige Rolle ein, sondern auch im interreligiösen Dialog oder in Unterrichtsreihen, wo das gegenseitige Verständnis unter Menschen unterschiedlicher Weltanschauungen gefördert werden will. Viel zu oft liegt der Schwerpunkt auf Ibrāhīm selbst, da die Quellenlage dies begünstigt. Wendet man den Blick jedoch auf die beiden Frauen Ibrāhīms und seine Söhne, ergeben sich interessante Einblicke, die es sich lohnt, genauer zu erforschen und nachzuzeichnen. Diese bieten grosses Potential, um etwa über soziale Gerechtigkeit, religiöse Hinwendung, Rationalität und Gottvertrauen sowie vertikale Beziehungsebenen zwischen Schöpfer und Geschöpf nachzudenken. 

Entlang ausgewählter Schwerpunkte soll die Geschichte Ibrāhīms aus einer muslimischen Perspektive religionspädagogisch reflektiert werden, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit oder Chronologie zu erheben. Meine Darstellung steht offen für den Diskurs mit anderen Ansichten. Der Fokus liegt jedoch dieses Mal auf Sara und Hāǧar, damit jene Aspekte herausgearbeitet werden, die sonst wenig Beachtung finden. 

Sara und Hagar– religionspädagogisch (islamisch) gelesen[1]

Sara und Hāǧar sind zwei Frauen, deren Geschichte in allen Heiligen Schriften der abrahamitischen Religionen mehr oder weniger diskutiert wird. Im Koran selbst jedoch werden die beiden Frauen nicht namentlich erwähnt. Betrachtet man die Geschichte aus einer islamischen Perspektive, beginnt diese während einer Reise Ibrāhīms mit seiner Frau Sara.

Sara und Ibrāhīm waren einmal auf einer Reise, wo sie ein Land betreten mussten, das durch einen tyrannischen Herrscher regiert wurde. Seine Bediensteten informierten ihn darüber, dass Ibrāhīm in Begleitung von Sara, einer wunderschönen Frau, war. Nachdem der Tyrann zunächst Ibrāhīm zu sich holte, lud er auch Sara zu sich vor. Er hegte ihr gegenüber unehrenhafte Absichten, welche aufgrund der Bittgebete Saras an Allah nicht in Erfüllung gingen. Bei mehrmaligen Versuchen Sara zu berühren, erlebte der Tyrann krampfartige Schmerzen in seiner Hand und lies ab von Sara. Aus der Furcht heraus, es könne ihm etwas Böses widerfahren, schenkte er Sara und Ibrāhīm Hāǧar, die zu ihren Diensten stand. Allah errette beide und sie zogen weiter. 

Sara und Ibrāhīm können über lange Zeit keine Kinder bekommen. Um doch noch Nachkommen zeugen zu können, wird auch Hāǧar zur Ehefrauen des Propheten Ibrāhīm. Schliesslich gebären beide Frauen Söhne, die im Islam als Gottes auserwählte Propheten gelten. Zwischen ihnen wird kein Unterschied gemacht[2]

Im Mittelpunkt der Geschichte der beiden Frauen und ihrer Söhne stehen die Anweisungen Gottes und das Vertrauen in Ihn[3], die sie erfüllen beziehungsweise in Ihn haben sollen. Hāǧar soll sich in Mekka niederlassen, um die Erbauung der Kaaba durch den Propheten Ismāʿīl zu ermöglichen, während Sara trotz ihres hohen Alters ihren Kinderwunsch erfüllt bekommt und den Propheten Isḥāq zur Welt bringt. Aus islamischer Perspektive rücken dabei Hāǧar und Ismāʿīl in den Vordergrund, da sie heute noch eine wichtige Rolle bei der islamischen Wall- und Pilgerfahrt in Mekka, Saudi-Arabien, sowie beim islamischen Opferfest einnehmen. 

«Wenn Engel zu Frauen sprechen…»

Für diese Auseinandersetzung erscheinen hier besonders zwei Szenen von grosser Bedeutung: Erstens die Verkündung an Ibrāhīm und Sara, dass ihnen im hohen Alter Isḥāq als Nachkommen von Allah geschenkt wird, und zweitens die Erscheinung des Erzengels Ǧibrīl (Gabriel) in der Wüste, die sich mit Hāǧar und ihrem Sohn Ismāʿīl ereignet hat. 

Beim Betrachten dieser beiden Stellen fällt auf, dass beide Frauen von den Engeln Gottes aktiv angesprochen werden und sie wiederum sehr proaktiv agieren. Die Engel besuchten Sara und Ibrāhīm und verkündeten ihr, dass sie einen Sohn gebären wird. Als Sara die Botschaft erhielt, dass sie einen Sohn bekommen würde, lachte sie. Aufgrund ihres hohen Alters und dem ihres Mannes konnte sie es nicht glauben. Sie stellt diese Nachricht in Frage und tritt damit ins Gespräch mit den Engeln. Diese erwidern ihr, dass es eine gottgewollte Sache ist und ihre Bitte nach Nachkommenschaft von Allah erfüllt wird (11:71-73; 51:29-30)[4]

Beim Betrachten dieser beiden Stellen fällt auf, dass beide Frauen von den Engeln Gottes aktiv angesprochen werden und sie wiederum sehr proaktiv agieren.

Hāǧar wird in der Wüste vom Erzengel Ǧibrīl besucht, dessen Stimme sie hört und der sie im Auftrag Gottes aus der Not errettet. Hāǧar sucht zwischen den beiden Hügeln As-Safā und al-Marwa verzweifelt nach Wasser, als sie plötzlich eine Stimme hört und neben ihrem Kind den Engel Ǧibrīl sah. Dieser stampfte mit seinem Fuss auf den Boden, wodurch der Süsswasserbrunnen Zamzam entstand, dessen Quelle bis heute nicht versiegt ist und noch immer alle Pilger und Pilgerinnen mit dem gesegneten Wasser versorgt. 

Beide Geschlechter spielen bei Allah eine Rolle

Diese beiden Stellen in der Geschichte gewinnen in mehrerlei Hinsicht eine bedeutende Rolle. Zunächst lässt sich festhalten, dass Gott den Menschen dialogisch und nicht hierarchisch anspricht und dabei etwa Geschlecht, der soziale Hintergrund und die soziale Rolle in allen Zeitepochen und an allen Orten keine Rolle zu spielen scheinen. Allah (Rabb), als Erzieher[5], und der Mensch, als ein zu erziehendes gottbezogenes Wesen, stehen trotz ungleichen Machtverhältnissen und Wesensarten dialogisch in Beziehung. Dies nicht aus der Macht und Fähigkeit des Menschen heraus, sondern vielmehr aus der Barmherzigkeit und Liebe Allahs gegenüber seinem Geschöpf, dem er die Fähigkeit zur Veränderung und zur materiellen wie immateriellen Reifung gegeben hat. 

Auf einen zweiten Blick betrachtet, wenden sich die beiden Frauen in erster Linie an Gott, wenn es darum geht, dass sie Hilfe erbitten.

Auf einen zweiten Blick betrachtet, wenden sich die beiden Frauen in erster Linie an Gott, wenn es darum geht, dass sie Hilfe erbitten. Diese Handlung bietet viel Potential gerade mit Blick auf die Gleichwertigkeit zwischen Mann und Frau. Als Sara vom tyrannischen Herrscher, der böse Absichten ihr gegenüber hegte, belästigt wurde, wendet sie sich im Gebet an Allah. Ebenfalls erbittet Hāǧar Hilfe um Errettung in der Wüste nicht von ihrem Ehemann Ibrāhīm, sondern von Gott allein. 

Sowohl Sara als auch Hāǧar werden nicht nur errettet, sondern gesegnet und beschenkt. Sara bekommt Hāǧar als Geschenk vom Tyrannen und der Ort, wo Hāǧar und ihr Sohn Ismāʿīl sich niederlassen, erblüht zu einer lebendigen Stadt mitten in der Wüste, der bis in die Gegenwart bedeutend bleibt. Selbstverständlich hat Ibrāhīm auch seinen Anteil am Bedeutungszuwachs Mekkas. Er wendet sich nämlich in Bittgebeten um die Segnung dieses Ortes an Allah. Der Blick auf die beiden Frauen jedoch zeigt auf, dass sie proaktiv werden und die Rolle des Objekts verlassen, indem sie zu handelnden Subjekten werden.

Islamische Religionspädagogische Reflexion über die Geschichte

Die Geschichte dieser beiden Frauen zeigt aus islamischer Perspektive zwei gleichwertige Frauen, die zunächst in einer sozial asymmetrischen Beziehung stehen. Sara als die Herrin und Hāǧar als ihre Dienstmagd. Im Moment der Eheschliessung zwischen Hāǧar und Ibrāhīm wird diese zu seiner Ehefrau und modern gesprochen, spielt ihr sozialer Status keine Rolle mehr. 

Islamisch betrachtet, wird der Streit zwischen den beiden Frauen, wie er in den anderen heiligen Schriften der abrahamitischen Religionen vorkommt, nicht prominent erwähnt und auch ihre Söhne werden beide als gleichwertige Propheten anerkannt, mit unterschiedlichen göttlichen Aufträgen und Aufgaben. Grund für das Auswandern und das Zurücklassen von Hāǧar und Ismāʿīl in der Wüste könnte – aus der Retrospektive gelesen – der spätere Auftrag zur Erbauung der Kaʿba, dem würfelförmigen Gebäude im Innenhof der ehrwürdigen Moschee in Mekka, gewesen sein. 

Sie überlässt sich nicht passiv ihrem Schicksal, sondern sucht aktiv nach Errettung und Wasser.

Neben der Proaktivität der beiden Frauen, die sich mehr als nur spürbar in deren Geschichte zeigt, lässt auch die hohe Rationalität erstaunen, ohne dabei diese gegen das Gottvertrauen aufzuwiegen. Sara nimmt es nicht «einfach nur hin», dass sie ein Kind gebären wird, «nur weil» dies von Gott alleine kommt, ohne diese Tatsache einer rationalen «Überprüfung» zu unterziehen. Angesichts des fortgeschrittenen Alters ihres Gatten und ihres eigenen hinterfragt sie diese Tatsache zunächst rational. Erst nachfolgend, als ihr die Engel berichten, dass dies die Botschaft Gottes sei, fasst sie Vertrauen in Allah. 

Bild: iStock / @Viktoria Korobova

Hāǧar fragt bei ihrem Gatten Ibrāhīm ebenfalls rational nach, in wessen Obhut er sie und das Kind in der Wüste hinterlässt. Wo doch keine Versorgung an diesem Ort und keine Vorkehrungen durch Ibrāhīm getroffen wurden. Erst als er ihr antwortet, dass er sie in der Obhut Allahs hinterlässt, nimmt sie dies vertrauensvoll an. Dennoch überlässt sie sich nicht passiv ihrem Schicksal, sondern sucht aktiv nach Errettung und Wasser – sowohl im Gebet wie auch an dem Ort, an dem sie mit ihrem Säugling zurückbleibt.

Allah will, dass wir unser Schicksal mitgestalten

All diese hier beleuchteten inhaltlichen Schwerpunkte der Geschichte zeigen schlussfolgernd deutlich auf, dass sich der Mensch unabhängig von seinen sozialen oder anderen Merkmalen für sich und seine Werte proaktiv einsetzen soll, was durch den Koranvers 11 in Sure 13 deutlich wird. Dort heisst es: «… Gewiss, Allah ändert nicht den Zustand eines Volkes, bis sie das ändern, was in ihnen selbst ist. …»[6]. Wir als Menschen werden ermutigt zu hinterfragen, anzufragen, rückzufragen und in friedlicher Hinsicht die Initiative zu ergreifen. Dabei verlieren wir nicht das Gottvertrauen aus den Augen und wiegen dieses auch nicht gegen die Rationalität ab. Vielmehr erkennen wir aus der Geschichte, dass wir als Menschen ein zur restlichen Schöpfung Gottes komplementäres Wesen sind, das auf viele Aspekte angewiesen ist, um den Alltag zu bewältigen. 

Heute noch ahmen Muslime und Musliminnen im Pilgerritual Hāǧar nach, indem sie zwischen den beiden Hügeln diese Suche nachzuerleben versuchen. Dies ist ein wichtiger Teil eines Gottesdienstes, der auf eine Frau zurückzuführen ist. Spätestens an solchen Stellen in den Heiligen Schriften wird man als Frau wach und fühlt sich von Gott ernst- und wahrgenommen. Gleichzeitig auch empowered, um den eigenen Weg in Mut und Gottvertrauen zu gehen. 

Fokus auf Sara und Hagar – Eine Perspektive für den interreligiösen Dialog

Zusammenfassend betrachtet, lohnt sich der Fokus auf die Geschichte der beiden Frauen mit Blick auf den interreligiösen Dialog aus unterschiedlichen Gründen. So etwa dient die Figur des Ibrāhīm im interreligiösen Dialog als Symbol des «Brückenbauers», da sie ähnlich von allen abrahamitischen Religionen erzählt wird und die Gemeinsamkeiten betont. Darüber hinaus bieten die Geschichten von Sara und Hāǧar eine tiefere Einsicht in die unterschiedlichen Entwicklungen und Interpretationen innerhalb dieser Traditionen. 

Sara repräsentiert die jüdisch-christliche Linie, während Hāǧar die islamische Linie darstellt. Diese unterschiedlichen Abstammungslinien sind grundlegend für die Identität und Selbstwahrnehmung der jeweiligen Glaubensgemeinschaften, ohne dabei die jeweils andere Tradition auszugrenzen. Weiter lässt sich an diesen Geschichten die weibliche Perspektive und der weibliche Einfluss auf Religionen detaillierter ausarbeiten. Viele dieser Geschichten sind im patriarchalen Kontext entstanden und in diesen werden oft männliche Figuren hervorgehoben. 

Ein Fokus auf Sara und Hāǧar betont die wichtigen Rollen von Frauen und fördert die Anerkennung und das Empowerment von Frauen in den religiösen Traditionen.

Ein Fokus auf Sara und Hāǧar betont die wichtigen Rollen von Frauen und fördert die Anerkennung und das Empowerment von Frauen in den religiösen Traditionen. Gerade im interreligiösen Austausch kann dieser Aspekt sehr bedeutet dafür sein, um Stereotypen von Frauenbildern, die man den einzelnen religiösen Vorstellungen zuspricht, zu brechen und aufzuzeigen, dass selbst in patriarchalen Gesellschaften Frauen eine wichtige Bedeutung zukommt. Diese beiden Frauen können auch uns heute als «Modelle» dienen, wie wir handeln können. 

Sara und Hāǧar stehen aber auch als Symbole für proaktives, durch Vernunft und Reflexion bestimmtes Handeln. Ihre Geschichten zeigen verschiedene Aspekte des menschlichen Handelns auf, aber auch der Entscheidungsfindung und der Anpassung an schwierige Umstände. Innerhalb dieser stützen sie sich zuerst auf die Vernunft und wiegen ab. Ausserdem sind sie proaktiv handelnde Subjekte und sind nicht etwa Objekte: Sie versuchen sowohl, ihre Situationen im Gottvertrauen selbst zu verändern, als auch, sich Gott in Bittgebeten zuzuwenden.

Zusammengefasst bietet der Fokus auf Sara und Hagar im interreligiösen Dialog eine reichhaltige Grundlage für das Verständnis und die Zusammenarbeit, da ihre Geschichten sowohl theologische als auch menschliche Aspekte berühren, die tief in den Traditionen der beteiligten Religionen verankert sind.


[1] Die Geschichte von Hāǧar und Sara ist vornehmlich an folgende Quellen rückgebunden: Sure11, Verse 71-73, Sure 51, 29-30, Sahih Muslim, Hadith 2371: https://sunnah.com/muslim:2371 [18.3.24], Sahih al-Bukhari, hadith 2217: https://sunnah.com/bukhari:2217 [18.03.24], Sahih al-Bukhari, hadith 3365: https://sunnah.com/bukhari:3365 [18.03.24]

[2] Sure 3, Vers 84 im Koran

[3] Das Personalpronomen für Allah wird aus Ehrerbietung Gott gegenüber von muslimischen Autor:innen in der Regel grossgeschrieben. 

[4] Die erste Zahl bezieht sich auf die Nummer der Suren (Kapiteln) im Koran, während sich die zweite Zahl auf die Verse bezieht. Hier wurde keine bestimmte Übersetzung verwendet.

[5] Wehr, H. (2020). Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart: Arabisch—Deutsch. 6., von Lorenz Kropfitsch völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag. S. 375. 

[6] Sure 13, Vers 11 im Koran.

Autor

  • Nadire Mustafi

    Nadire Mustafi ist Leiterin der Fachstelle KIAL für ethisches und interreligiöses Lernen und Lehrbeauftragte im Fachbereich Ethik, Religionen Gemeinschaft an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen. Ebenfalls ist sie Junior Forscherin und Doktorandin am Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft an der Universität Fribourg.

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